Eine Kapelle ist entstanden. Wie schön!
Die Bezeichnung Kapelle kommt vom lateinischen Wort cappa. Und das
heißt auf Deutsch Mantel. Gemeint ist der Mantel des hl. Martin von Tours,
den fränkische Könige in einem kleinen Raum ihres Pariser Wohnsitzes
aufbewahrten. Allmählich nannte man diesen Raum selbst Cappa oder
eben Kapelle. Und übertrug diese Bezeichnung auf weitere kleine Sakralräume
irgendwo im Land, in Burgen und Residenzen, wo immer Heiligtümer und
Schätze verwahrt waren.
Die Kapelle - ein Mantel, ein Schutzmantel, ein Objekt der Bergung und
Zuflucht, wo man durchatmen und neuen Mut fassen kann, wo man über Gott
und die Welt nachdenken und das eigene Leben neu ordnen kann – mir gefällt
das.
Verehrte Frau Mona Zimen, liebe Frau Rut Kohn, Sie beide haben einen
bezaubernden, heutigen und denkbar originellen Sakralbau verwirklicht. Ich
danke Ihnen und allen an Bau und Ausstattung Beteiligten im Namen der
Einkehrenden für diese Initiative. Besonders danke ich Ihnen, dass Sie diese
Kapelle jetzt für jedermann öffnen. Ohne nach Religion oder Konfession zu
fragen. Vielen Dank!
Die Kapelle steht in einem weiten, gesegneten Bauernland. Im Westen sieht
man gelegentlich die Bayerischen Alpen. Im Osten den Böhmerwald. Der
Bauplatz selbst scheint eine besondere Strahlkraft zu haben. Ich muss an den
biblischen Jakob denken, der einmal unter freiem Himmel übernachtete und
des Morgens beim Erwachen sagte: „Wie heilig ist diese Stätte ... Hier ist die
Pforte des Himmels.“ Gen 28/17.
Die Kapelle Grillenoed ist ein hölzerner Satteldach-Bau mit dreiseitigem Chor-
abschluß. Ein polygonaler Dachreiter betont den Kultort. Der rote Anstrich und
die weißen Rahmungen lassen das Gebäude beinahe skandinavisch wirken.
Zierlich wirken die Rundbogenfenster. Auffallend ist die handwerklich gestaltete,
farblich herausgehobene Eingangstür.
Wer durch diese Türe geht, wird überrascht sein. Der Innenraum ist über und
über bemalt. Die Wände, die Decke – alles ist von Künst-lerhand farbig und fein
gestaltet. Lebensbäume an Säulen, Heckenrosen auf Lisenen. Und der Himmel
voller Sterne und geheimnisvoller Zeichen und Geister. Man wird da lange schauen
können – und doch nur einen kleinen Teil der Botschaften erfassen.
Als ich neulich den fertigen Raum sehen durfte, kamen zwei Radfahrer des Wegs,
junge, kräftige, sportliche Männer mit Handschuhen und Helmen. Lachend und sich
munter unterhaltend traten sie in die Kapelle. Sahen sich um. Und verstummten.
Wie man verstummt, wenn man einer fremden Faszination und Kraft begegnet.
Wer hat das alles gemalt oder gezeichnet, gewusst oder erträumt? Die Künstlerin
ist Frau Rut Kohn, die nicht weit von hier mit ihrem Mann zuhause ist. Frau Kohn
wurde 1937 in der ehemaligen Tschechoslowakei geboren. Sie studierte Pädagogik,
heiratete und wurde Lehrerin. Als die politischen Umstände zu schwierig wurden, ging
sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Zunächst nach München. Hier konnte sie sich
als Künstlerin entfalten. Ihre vitale Begabung setzte sich durch. Frau Kohn schuf
großformatige Bildtafeln und kleine Buchillustrationen. Alles sehr eigenständig,
geistreich und poetisch. Eher leise und stets voll herzlicher Empathie.
Typisch sind die Zyklen zu einem einmal gefundenen Thema: Häuser in Nieder-
Bayern, Tücher auf Tischen, Kanaldeckel in aller Welt. Vieles, was Frau Kohn wieder-
gibt, gerät zur Metapher: Die Vase, das Fenster, die Frucht. Ihr Farbenkanon ist fast
sanft, jedenfalls naturnah, niemals auftrumpfend.
Und so ist sie selbst. Zart, zurückhaltend, und unbedingt liebevoll. Freilich, ihr Geist
ist hell wach. Ihre Rede ist sachlich und klug. Sie weiß, was sie will. Es freut mich, dass sie diverse Kunstpreise erhielt und 2006 in Prag den Titel: „Bedeutende tschechische Frau in der Welt“.
Frau Kohn hat sich eine eigenartige künstlerische Technik angeeignet. Mit Farbstiften
zeichnet sie auf rohe Sperrholzplatten. Eigentlich geht das gar nicht.
Die Künstlerin aber überwindet geduldig die Widerständigkeit des Materials. Sie
zeichnet, bis sich das Holz ergibt und sich mit einer hauchdünnen, strukturierten
Farbschicht überkleiden lässt. So auch hier in der Kapelle.
Es ist jetzt nicht möglich auf alle Motive der Raumgestaltung einzugehen. Etwa auf
die auffliegenden Gestalten oder auf die lichtdurchschienene Menschengruppe im
Chorraum. Auf die merkwürdige Feder-Uhr am Altar oder auf die Taube über den
Wassern zuoberst.
Es ist nicht möglich und auch nicht angebracht. Gegenwartskunst ist offen. Sie will
Jedem das Seine sagen. Das, was ihn gerade jetzt angeht. Eine festlegende Inter-
pretation wäre verfehlt.
Dennoch möchte ich aufmerksam machen auf drei große Themen, die ich in der
Kapelle entdecke. Das erste Thema ist das Mysterium der Liebe. Das zweite das
Mysterium der Zeit. Und das dritte das Mysterium der Bruderschaft alles Geschaffenen.
1. Das Mysterium der Liebe
Das Altarbild der Kapelle hat zwei Flügel. In geschlossenem Zustand sieht man einen
Schleier. Ein zartes Gewebe, das ein noch viel zarteres Geheimnis verhüllt. Bei geöff-
netem Zustand entdecken wir auf der mittleren Tafel des Triptychons zwei Personen
inmitten einer geradezu paradiesischen Szene. Die eine Person liegt. Die andere neigt
sich über sie. Ein Bild innigster Verbundenheit und behutsamster Anteilnahme. Der
Dichter Eduard Mörike konnte schreiben: „Wenn ich von deinem Anschaun tief gestillt mich stumm an deinem heilgen Wert vergnüge, so hör ich recht die leisen Atemzüge des Engels, welcher sich in dir verhüllt.“
Liebe muss nicht immer tätig sein. Ihre bloße Anwesenheit genügt. Im Leben
und Sterben. Ihre bloße Anwesenheit verändert die Welt. Lässt Farben leuchten.
Blumen blühen. Tränen trocknen. Sie ruft das Paradies zurück und macht den
unendlichen Wert des Mitmenschen deutlich. Auf eine nahe Tafel hat Frau Kohn
den 8. Psalm geschrieben. Darin heißt es: „Herr, unser Herrscher, Du hast den Menschen nur wenig niedriger gemacht, als die Wesen des Himmels ...“ Nur die Liebe weiß das. Wenn sie zu uns kommt, wird sich unser Umgang mit anderen entschieden ändern.
2. Das Mysterium der Zeit
Für den Eingangsbereich der Kapelle malte Frau Kohn Symbol-Tafeln der einzel-
nen Monate im Jahreslauf. Eine Zeitansage, wie man sie aus alten Baptisterien kennt.
Zeit – was ist das? Wir wissen’s nicht. Nur die Gegenwart, genauer der Augenblick
scheinen uns real zu sein. Die Zukunft ist Utopie. Die Vergangenheit nur Erinnerung.
Der Augenblick aber hat je und je seine Aufgabe und Verheißung. Wenn wir ihn wahr-
nehmen und nützen, ist die Zeit und mit ihr unser Dasein kostbar. Wenn wir vertagen,
oder vertun, was jetzt an der Reihe ist, geboten und möglich ist, verliert die Zeit – auch
unsere Lebenszeit ihren Wert.
Vielleicht steckt ja im Augenblick die Ewigkeit, zumindest die Anrührung der Ewigkeit.
Jedenfalls scheint der erfüllte Augenblick die Zeit außer Kraft zu setzen. Ein Sprichwort
sagt: „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.“
Da ist noch eine andere Tafel in der Kapelle. Auf sie hat die Künstlerin den biblischen
Traktat über die Zeit geschrieben: „Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter
dem Himmel hat seine Stunde ...“ Pred 3/1 ff. Ein sehr lesenswerter Text, der uns einlädt,
immer wieder zu fragen und auszuhorchen, was im Augenblick zu tun ist: Säen oder
Ernten. Fordern oder Fördern. Ich denke, wenn am Ende unseres Daseins einer sagen
sollte. Für mich hattest du immer Zeit. Dann haben wir’s nicht ganz verkehrt gemacht.
3. Das Mysterium der Bruderschaft alles Geschaffenen
Zurück zum Altarbild! Auf den geöffneten Flügeln sind vielerlei Tiere zu sehen. Wasser-
tiere, Landtiere, Nachttiere, Vögel. Dazu Sonne und Mond.
Viele von uns haben heute nur noch wenig Kontakt zur Schöpfung. Wir haben uns
eine Sekundärwelt geschaffen. Arbeiten in klimatisierten Räumen. Bedienen Computer.
Und sehen abends die Welt auf dem Fernsehschirm. Die Tatsache, dass wir alle in eine
durch und durch lebendige Welt hineingeboren wurden, ja Geschöpfe unter Geschöpfen
sind, ist uns kaum mehr bewusst. Dabei sind uns Busch und Baum, der schlaue Fuchs
oder das scheue Reh näher verwandt als wir vielleicht vermuten.
Franz von Assisi konnte beten: „Gelobt seist Du, unser Herr, durch Bruder Wind, durch Luft
und Wolken, durch den heiteren Himmel und jegliches Wetter, durch das Du Deinen Ge-
schöpfen den Unterhalt gibst“
Rut Kohn rückt wohl Fauna, Flora und Gestirne deshalb so dicht an den Menschen heran,
weil sie weiß, dass der isolierte, von allem Kreatürlichen abgeschirmte Zeitgenosse
leicht Schaden nimmt an seiner Seele. Morgens die Blumen gießen. Nachts das Käuz-
chen hören. Das tut zuinnerst gut.
Meine Damen und Herren, haben Sie Dank für Ihre Geduld. Und haben Sie viel Freude an
dieser bezaubernden Kapelle!